Ein Ass im Ärmel

Kalt. Bittersüße Kälte, die den Leib umfängt, ihn umschmeichelt. Meinen Leib. Sie dringt in mich ein, sticht, zerrt die Wärme heraus. Meine Finger spüre ich kaum noch, sie sind fast taub gefroren. Doch noch ist dort ein kaum merkliches, dumpfes Pochen. Ein sanfter Schmerz. Leider kaum noch von der Süße wie zu Beginn. Auch der Schmerz in meinen Ohren lässt nach. Meine Zehen sind kaum noch da. Laufen kann ich noch, das Blut wird weiter in Finger, Ohren und Zehen gepumpt. Denn ich bewege mich. Ich gehe. Es wäre einfacher, schneller, wenn ich mich jetzt hinlegen würde. Die Kälte würde mich gänzlich umfangen, mir die Sinne rauben. Schließlich auch mein Leben.

Aber mich treibt nicht der Tod in die Kälte. Ich lege mich nicht hin. Ich gehe weiter, folge dem Lauf der Brücke. Aus hartem kalten Stein. An den Rändern ragen lange Spitzen gen Himmel. Klein, im Vergleich zu ihren Brüdern und Schwestern in der Schlucht, die ich mit Hilfe dieser Brücke überquere. Spränge ich nun hier herunter, ich würde von langen, messerscharfen Felsen aufgespießt. Kein schöner Tod. Viel zu kurz.

Fasziniert betrachte ich die Zähne der Brücke, während ich an ihnen vorübergehe. Sie lechzen. Lechzen nach Blut. Nach meinem Blut. Denn ich bin der einzige, der hier ist. Der war. Der sein wird. Ich habe dieses Reich geschaffen. Ein lebensspendendes Heim im scharfen, kalten Tod. Ich bin der Bezwinger des Todes und manchmal der Tod selbst. Ein Irrer, sagen die einen. Der mächtigste Mann auf der Welt, so propagieren andere. Grausam, gewieft, mächtig. Irre. Immer wieder mächtig und irre. Bin ich mächtig? Nein. Bin ich irre? Vielleicht. Ich bin ich. Die anderen sind schwach. Sie sind dumm. Sie sehen nicht. Nichts. Niemals.

Herr der Finsternis nennen sie mich. Ich habe nie verstanden, wieso. Ich kann nichts dafür, dass es in dieser Gegend niemals Tag zu sein scheint. Der Sturm, dessen finstere Wolken die Sonne verdecken, ist nicht mein Verschulden. Er ist das Ergebnis vieler Faktoren. Mehr als die Hälfte davon haben sie verursacht. Sie nennen mich irre. Sie klagen über all ihre Toten, deren Verursacher ich bin. Sie jammern um die Zerstörung, die ich angerichtet habe. Mächtig nennen sie mich. Ich bin nicht mächtig. Sie sehen nicht. Nichts. Niemals.

Sie erfinden. Sie bauen. Sie vermehren sich, gleich einem tödlichen Virus. Sie sind mehr Tod als ich es bin. Sie sind dumm. Sie sind schwach. Sie sind mächtig.

Umweltverschmutzung – ihre Schuld. Ozonlöcher – ihre Schuld. Krieg – ihre Schuld, meistens jedenfalls. Ich gebe zu, gelegentlich einen Krieg anzuzetteln hat mir Spaß gemacht. Die Kälte und Finsternis – ihr Verschulden. Doch sie sehen es nicht. Sie verstehen es nicht. Sie geben mir die Schuld. Ich bin ein guter Sündenbock, in der Tat. Auf mein Konto geht viel. Bin ich mächtig? Nein.

Vielleicht bin ich irre. Nach ihrem Maßstab bin ich es. Ich fahre mit meinem Finger über eine der Felsspitzen. Sie ritzt die Haut auf, durchschneidet sie. So, wie mein Schwert schon viele dieser dummen Wesen durchschnitten hat. Der rote Lebenssaft sickert hervor. So gering ist der Schmerz. Kaum spürbar. So nah dem Tod sind meine Hände schon. Es ist faszinierend. Ich sehe meine eigene Hand sterben, bevor ich selber mich dem Tod ergebe. Sie verstehen es nicht. Dabei tun sie das gleiche. Sie verstehen nie. Niemals.

Getötet, gemordet, verletzt, besudelt, misshandelt, gepeinigt, gefoltert. So oft. So viel mehr als ich es je tun könnte. Ich, der mit einer Leidenschaft das Leben nimmt, die ihnen die Worte raubt. Ich, der seit Jahrtausenden unter ihnen wandel. Ich, der inmitten der Steinernen Hölle einen Palast geschaffen hat, jede Ecke so tödlich wie ich selbst. Ich bin es, der am Ende verliert.

Egal was ich tue, sie tun es dreimal teuflischer. Es gibt nichts mehr. Sie haben sich alles selbst genommen. Ich bin nur noch das Sinnbild ihrer eigenen Taten. Sie sagen, ich sei mächtig, weil sie ihre eigene Macht in mir sehen. Weil sie nicht sehen. Weil sie nicht wahrhaben wollen.

Mein Finger hat längst aufgehört zu bluten. Rotes Eis haftet an ihm. Ich breche es ab. Die kälte frisst sich weiter durch meinen Körper. Langsam schreite ich durch das Tor. Sofort fühlt sich alles viel wärmer an. Hier drinnen, ganz ohne Wind. Doch in Wirklichkeit ist es genauso eiskalt wie draußen. Ich sehe Dinge, die nicht da sind. Halluzinationen kurz vor dem Tod. Am Ende geht es immer schnell.

Ich sehe Kriege. Ich sehe all die Dinge, die ich getan habe. Stolz breitet sich in mir aus, Zufriedenheit. Aber dann sehe ich, was ich nicht getan habe. Sondern sie. Selbst hier, in meinem Reich, in aller Einsamkeit, finde ich keine Ruhe.
Erhaben wie immer schreite ich zu meinem Thron, geziert mit jenen Felsspitzen, die auch meiner Brücke und meinem Schloss ihren Charme verleihen. Sie künden von Schmerz. Von süßem Schmerz. Ich setze mich, die Hände im Schoß gefaltet. Ich bete nicht. Ich genieße. Wir haben Schach gespielt. Sie und ich. Schachmatt haben sie gesagt. Und: wir haben uns bereits selbst zerstört, wir brauchen dich nicht mehr. Sie denken, sie haben mir alles genommen, indem sie sich selbst alles nahmen. Nein. Das denken sie nicht. Aber ich stelle es mir so vor. Welche Erklärung gäbe es sonst dafür? Warum sollten sie sich selbst zerstören, wenn nicht, um mir ein Schnippchen zu schlagen? Ich verstehe sie nicht.

Mein Lächeln, wie es wohl jetzt aussieht? Jetzt, wo mein Körper halb erfroren ist? Es ist berühmt, mein Lächeln. Sie sagen, es sei die Grausamkeit selbst. Wie gerne würde ich dem Glauben schenken. Aber ich weiß, dass es Grausameres gibt. Sie.
Doch ich habe ein Ass im Ärmel. Mir egal, dass es ein Ass nicht gibt, beim Schach. Ich gebe mich nicht in meinem eigenen Spiel geschlagen. Es schien mir, als gebe es nichts mehr. Kein Schmerz, den ich verursachen könnte, den ich genießen könnte. Keine Süße. Ich habe mich geirrt.

Ganz langsam lege ich meine Arme auf die Lehnen meines Thrones. Ganz langsam bohrt sich die kalte, scharfe Zierde durch meine Haut. Es war gut, dass ich die Felsspitzen nur von der Sitzfläche und der Lehne entfernt habe. Das Rot tropft am Stein herunter. Schmerz, herrlicher Schmerz. So süßes Leid, süßer noch als alles, was ich in den letzten Jahrhunderten habe kosten dürfen.

Meine Knochen bieten zunächst Widerstand. Doch der Stein ist hartnäckig. Geschärft von Jahrtausenden voller kaltem Wind. Geschärft von meinem eigenen Schwert. Ich habe sie zur Perfektion gebracht. Nun bringen sie mich zur Perfektion. Mein Lebenswerk. Vollendet, mehr, mit jeder weiteren Sekunde, die mein Blut aus meinen Adern fließt. Bald wird es gefrieren. Genau wie mein Körper. Ich spüre, wie mein Bewusstsein davongleitet. Lieber, süßer Schmerz.
Verlass … mich … nicht …

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